Inferno al dente
„Ich bin ein cooles Engelwesen, ich bin postmodern, international, ach was, global vernetzt, ich bin sowas von zeitgemäß, habe keine mittelalterliche Puttenfigur, sondern trainierte Muskeln, performe einwandfrei unter all den hippen Engeln. Ich bin Wissam und habe Heerscharen von geflügelten Followern. Ich bin ein Engel und ich liebe Angliszismen, really!“ – So schwebe ich vor dem Spiegel und sporne mich an. Denn ich habe ein Geheimnis, von dem keiner wissen soll – wie das so ist mit Geheimnissen. Unser Erzengel Gabi würde das nie gestatten; Gabi duldet keinen Kitsch. Aber meine Performance ist zum Glück so lupenrein, dass wirklich niemand aus den Heerscharen auf die Idee käme … Nein, selbst Eisenerzengel Gabi nicht. There must be an angel playing with my heart.
Deshalb lebe ich unheimlich heimlich meine Leidenschaft aus, nur einmal im Jahr. Yessss … – mir stockt der Äther und der linke Flügel zuckt nervös – ich liebe es, wenn es süßlich duftet, wenn überall romantische Lichtlein leuchten, wenn kitschige Kugeln funkeln und schlechte Engelabbildungen albern glitzern. Ja, ich liebe all diese verpönten Weihnachtsbräuche, die weder mit geweihten Nächten noch Brauchtum zu tun haben. Ja, ich gestehe das … aber nur mir selbst. Meine Frengel, also meine engsten Freundesengel dürfen niemals etwas davon erfahren. Bei denen bin ich beliebt, weil ich so nice performe. Frengel Wisal kenne ich bereits aus der Schule. Wir hatten zusammen Engelisch, den Grundkurs gegen Flugangst und den Leistungskurs Mythos & Materie mit Zusatzqualifikation virtuelle Virtuosität. Und Frengel Wynne kam damals als Austauschengel aus Irland und erhielt Asyl, weil Wynne die Aufnahmeprüfung in die Himmlischen Heerscharen mit summa cum laudatio in einem Flügelstreich bestanden hat. Wir sind die drei Erfolgsfrengel für Eisenerzengel Gabi. Deshalb muss ich vorsichtig, umsichtig, weitsichtig und gänzlich geheim agieren. Sie alle darf ich nicht enttäuschen. – Dennoch, ich kann nicht anders: Einmal im Jahr muss ich mich meiner Leidenschaft hingeben, und heute ist es wieder so weit. Ich, das coole postmoderne Wissam-Engelchen mit den Heerscharen von Followern werde zum … Psst, ganz leise … Weihnachtsmonster. Ich bin nicht der ‚Grinch‘, ich bin herzensfroh cringe. Keine Angst, niemand wird mich erkennen, niemand wird etwas ahnen, kein Engel, kein Mensch – nur jedes Tier, aber Tiere sind kumpelige Kreaturen, die nicht quatschen.
Ich verpflichte euch, mein Lesepersonal, also zum Schweigen, zum Stillschweigen quasi, das ist nämlich doppelt so leise.
Die magische Kiste steht bereit. Eine Kiste voller Klüngel und Kitsch, Glitzergirlanden, Funkelkugeln, Lametta, Sternchen, Lichterketten, Tannenhut, Samtmantel. Das wird ein bisschen heiß unter all dem Flitterkram, aber ich bin so cool, dass ich das – voll postmodern – klimaregulieren kann. Wo sind denn die Glöckchen? Und mit welcher Stimme machen sich Jingle Bells wohl am besten? Der leise rieselnde Schnee braucht eine helle Kinderstimme. O Tannenhut, hohoho! Zum Glitzerglück bin ich ein logopedantisches Engelwesen und stimme mich in allen Tonlagen ein … Oh, es geht schon los!
„Meine Damen und Herren, liebe Feierfreunde und Weihnachtsfans, ich begrüße euch ganz herzlich im Inferno al dente. Seid ihr gut drauf? Wollt ihr eine höllisch gute Party? Wollt ihr Weihnachten? Dann gebt mit ein A … Aaah! Gebt mit ein D, gebt mir ein V, gebt mir ein E, ein N, ein T … eins, zwei, drei, vier … Hier ist es! Hier ist für euch aus den geheimen Gefilden des Schattenreiches: das Weihnachtsmonster!“
Herrlich, es bimmelt und bammelt, es johlt und klatscht, und ich – Wissam – betrete die Bühne, bin die Attraktion des Abends. Alle meine Stimmen sind geölt, ich bin perfekt eingeträllert, kann mich kaum entscheiden, womit ich anfange vor lauter Begeisterung. Ich wackle mit meinem Tannenhut, dass die Kugeln klirren, werfe mit Lametta, läute mit laszivem Schwung meine Glöckchen und lasse die Lichter meiner Ketten zucken. Alle Jahre wiiiiieder … I´m coming down for Christmas … Schneeheeflöckchen, Samtröckchen … in der Weihnachtsbäckerei … jede Menge Sauerei … Oh, du fröhliche, ausgelassene Weihnachtszeit ….
Jetzt tobt der Saal, das Publikum rastet aus, eine völlig vergoldete und durchgelockte Rauschgoldfigur schwingt ihre Plastikflügelchen samt puttigem Leib auf die Theke und jodelt dazu. Jingle bells, Single bells, Klüngel bells … Man reicht mir Glühwein, dann Glühbier … Stihille Nacht … Oh, ein zimtiger Weihnachtsschnaps, eieieieilige Nacht … obendrauf einen Eierlikör … Last Christmas I gave you … mehr Glühwein mit Schuss, peng, peng!
Ich tanze – ihr Kinderlein, feiert! – durch das Publikum zur Theke und meinem Tannenzapfencocktail, serviert mit einer feinen Line … Leise rieselt der Schnee, lasse lässig ein brennendes Weihräucherstäbchen aus dem Mundwinkel hängen. Vorbei an Rudi, the rednosed Rendeer … rase ich blinkend zurück auf die Bühne. Eine fesche Weihnachtsgestalt in rot-weißem Koffein-Limonade-Outfit wedelt wild und wenig besinnlich mit dem langen Bart. Bestimmt kommt dieser Weihnachtstyp direkt von seinem Job in einem dekadenten Einkaufstempel … Hohoholt mir mehr Glühwein, mehr Glühbier und einen Lebkuchenschnaps … Ich schlage elegante Schwibbögen, schwofe schwungvoll mit einer weißen Plastiktanne, O Tannenbaum.
Die Stimmung kocht, die Crowd brodelt, als ich mich mit gehauchtem Santa Baby an der Hammondorgel rekele, begleitet nur vom Seufzen und einem Chor aus „Ausziehen!“-Rufen. Welche Wonne, so gefeiert zu werden. So weihnachtlich, so monstermäßig. We wish you a merry … Ganz langsam werfe ich eine Kugel nach der anderen ab, schwenke meine Glitzergirlande, lasse die Glöckchen klirren und lüfte meinen tiefroten Samtmantel. Mit einem sauber intonierten Oh du selige … lupfe ich meinen Tannenhut und stehe da, in nichts als blinkende Lichterketten gehüllt. Und jetzt alle: Feliz, feliz, feliz Navidad!
„Wissam!“ Die Weihnachtsgestalt reißt Bart und Kapuze vom Kopf und schwingt sich zu mir auf die Bühne: Es ist Wynne, mit einem engelhaften Lächeln im Gesicht, so rot wie der Mantel. Fröhöliche Weihnacht … Die goldene Pseudo-Putte rauscht herab von der Theke und zu uns herüber, wirft Flügel und Locken von sich und kratzt sich verschämt den Fatsuit. Das ist doch Wisal.
Als festlich beleuchtetes nacktes Weihnachtsmonster schwanke ich sang- und klangvoll zwischen meinen Frengeln. Soooo viel Heimlichkeit … und meine Liebsten sind nun eingeweiht! Auch rednosed Rudi schwingt das Plüschgeweih. Seine funkelnden Äuglein erinnern mich fatal an den Eisenerzengel. There must be some angels playing with my heart.