Leseempfehlung: Das Billardcafé
Themen sind Verstädterung, Dienstleistungsgesellschaft und Digitalisierung qua Überwachung. Ausgehend von Prognosen aus der Wirtschaftsforschung der vergangenen Jahre für Deutschland wird eine solche Entwicklung in diesem Buch konsequent weitergedacht. Es liefert eine dystopische Atmosphäre von entvölkerten Landstrichen, gedrängten Großstädten mit bedrängender Kontrolle und einer allgegenwärtigen Gewalt, die den medial abgebrühten Menschen zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein scheint.
Entsprechend düster präsentiert sich die Erzählung zunächst in der „Zeit zwischen Herbst und Winter“ bis in die Pollenzeit, eine Zeit des – ebenfalls radikal weitergedachten – „gelben Nebels“, den ein Großteil der Bevölkerung nur in besonderen Schutzanzügen übersteht. Durch einige vermeintliche Zufälle überlebt ein unauffälliger älterer Mann den Anschlag auf ein Café durch einen angeratenen Toilettengang. Dann steckt ein Sterbender ihm beim Verlassen der Szene Informationen zu, die er weiterreichen soll an eine Adresse in Wiesbaden.
Der Unauffällige ist Rentner Fred Lichtenberger, der diesen Auftrag übernimmt. Er weiß, es wird gefährlich werden, und es wird schnell noch gefährlicher als vermutet. Man erfährt bald, dass Fred nicht nur der unscheinbare Rentner ist, sondern durchaus eine Vergangenheit hat, die Aufklärungs- und Sicherheitsdienste hellhörig macht. Schnell wird klar, dass diese offiziellen Stellen alles andere als sauber arbeiten, dass es interne Intrigen gibt und im Überwachungsstaat der nicht genau bezeichneten „nahen Zukunft“ ein Untergrund existiert. Fred zählt sich selbst nicht dazu, ist misstrauisch, vorsichtig, allerdings irgendwann auf Hilfe angewiesen. Denn er begibt sich auf einen Roadtrip von Ost nach Süd und weiter auf allerhand Umwegen nach Wiesbaden, immer auf der Hut vor Kameras und den Schergen der Dienste, die nicht nur seine Informationen, sondern auch ihn abfangen wollen. In einer besonders brenzligen Lage trifft er Anita, eine rebellische Agentin, die bei ihrer Sicherheitsbehörde in Ungnade gefallen ist. Gemeinsam setzen die beiden Freds Mission fort und sind nun doppelt Gejagte.
Eine Chance haben beide nur, weil auch Fred keine normalbürgerliche Vergangenheit, sondern durchaus besondere Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt. Und – ganz genre-untypisch – entwickelt sich eine menschliche Beziehung zwischen den Figuren. Spannung und Anspannung halten an …
Was mir bei dieser Lektüre besonders gut gefallen hat: Trotz dystopisch kalter – und erschreckend realistischer – Atmosphäre und aller Getriebenheit des Protagonisten, ist Fred Lichtenberger kein zum Einzelkämpfer mutierter Rentner. Er besitzt ein nachvollziehbares Sozialverhalten, ist auf Hilfe angewiesen und lässt sich auch helfen. Er reflektiert, kommuniziert, interagiert. Sein Widerstand ist vieldimensional. So ist das gesamte Setting zwar dystopisch, die Gesellschaft in „naher Zukunft“ zeigt jedoch menschliche Regungen und scheint nicht unwiederbringlich dem Untergang geweiht. Das Buch liefert durchaus Unbehagen à la Orwell, doch es blitzt immer auch ein wenig Karl Popper durch.
George Orwell, 1984, London 1949
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, München 1958/59
Matt Pastore, Das Billardcafé, Hybrid Verlag 2021, ISBN 978-3-96741-100-3